Uncanny Valley: Die Rationalisierung des Autor*innenauftritts


Zum Ende der Performance bleibt der Darsteller, der sich eingangs als Schriftsteller Thomas Melle vorgestellt hat, einfach in seinem Sessel hocken, ein Bein leger überschlagen. Unter verhaltenem Applaus sperren zwei Theatertechniker*innen das kärgliche Bühnenbild ab, mit edlem, rot schimmernden Gurt. Das zieht an. Langsam erheben sich Menschen aus dem Publikum und weichen heran, durch die Absperrung überhaupt erst dazu animiert, den Darsteller aus der Nähe zu studieren. Melle verharrt geduldig. Nur hin und wieder zwinkert er schwerfällig, als wäre jedes Blinzeln ein kurzer Selbstentzug von der neugierigen Menge. Aber Melle muss sich nicht entziehen, denn er erlebt nichts von dem, was in der letzten Stunde in diesem Theaterraum geschehen ist. Und das, obwohl er gespenstisch präsent, sogar empathisch wirkt. Während der Performance hakte sein schweifender Blick immer wieder an einzelnen Gesichtern der ersten Reihe, musterte er die Reaktionen der Zuschauer*innen aufmerksam, ging in seinem Monolog geduldig auf das Unbehagen des Publikums ein, immer verständnisvoll, nie entschuldigend. Jetzt, als mangele es der Menge an eben diesem Einfühlungsvermögen, steht sie direkt am Absperrgurt. Einzelne filmen Melles entstellten Hinterkopf aus der Nähe.

Viel Intimes haben die Zuschauer*innen  in der letzten Stunde über den Schriftsteller erfahren. Thomas Melle ist bipolar. Er liest ungern vor Publikum aus seinem die Krankheit verarbeitenden Roman Die Welt im Rücken. Fernsehaufnahmen und Buchmessenauftritte ist er leid. Die Präsentationen seines ohnehin unübersichtlichen Selbsts erschöpfen ihn. Aber — auch das kann das Publikum bezeugen — Thomas Melle hat sich trotzdem von den Theatermachern von Rimini Protokoll auf eine Bühne setzen lassen, um dort poetisch präzise eine weitere Version seiner eigenen Geschichte zu erzählen. Hier lässt er sich sogar gerne darbieten, auch das weiß das Publikum. Früher am Abend wurde das Gesicht eines zweiten Thomas Melle auf eine kleine Leinwand direkt neben dem ersten Thomas Melle projiziert. Dieser Videobotschaftsmelle erklärte, warum im Rahmen der Performance etwas grundlegend anders sei als sonst. Der Typ, der da auf dem Sessel sitze, erklärte er, habe keine anarchische Psyche, sondern ein funktionierendes Programm. Er ist ein Prototyp, ein tatsächlicher Roboter, noch nicht einmal eine künstliche Intelligenz, daher weitestgehend berechenbar. Sein Monolog läuft auch dann, wenn der Schriftsteller gerade anderswo ist. Wenn er sich der Öffentlichkeit nicht darbieten will, vielleicht, weil ein manisches Hoch ihn immer nach drei konzentrierten Sätzen dazu zwingt, das Thema zu wechseln. Vielleicht aber auch, weil er einfach mal wieder in Ruhe in einer Sauna dampfen will, das lässt der Klon scherzend durchblicken. 

Melle kokettiert damit, einen zuverlässigen Hack gefunden zu haben, mit dem er die Schwierigkeiten psychiatrischer Autofiktion auflösen kann. Denn die Poetisierung der eigenen Erfahrung psychischer Krankheit verläuft mit Komplikationen. Die Verwechslung von Autor*in mit Erzähler*in ist nicht nur gängig. Man könnte sogar behaupten, dass Publikum wie Verlags-PR sie gerne passieren lassen. Die außerliterarische Existenz der Schriftsteller*in, ihre Wikipedia-Einträge und Talkshow-Auftritte, geraten zu Guilty References. Das strapaziert verschiedene Paradigmen der Erzähltheorie, bei denen Autor*in und Werk unterschieden werden. Aber die ergänzenden Informationen gestreng herauszuhalten, wäre simuliertes Realitätenmikado, also der spielerische Beweis, dass man verschiedene Realitätsebenen durchaus noch auseinandersortieren kann, wenn man es denn möchte. Melle muss also verwechselt werden, die Ritualisierung dieses Vorgangs im medialisierten Literaturbetrieb aber ist Fleißarbeit für ihn. Während seine Autofiktion in einer Druckerei reproduziert wird und als Buch frei von ihm zirkulieren kann, muss Melle die kostbare Autorenfiktion immer wieder persönlich erzeugen, wenn er irgendwo auftritt. Das ist auch für Menschen, die keine bipolare Erkrankung haben, harte Arbeit. Melle und die Theatermacher von Rimini Protokoll bieten mit der wortwörtlichen Rationalisierung des Autor*innenauftritts ein Alternativmodell an. 

Den titelgebenden Begriff Uncanny Valley hat der Robotiker Masahiro Mori geprägt. Er beschrieb damit das Unbehagen, das Menschen empfinden, wenn Puppen oder Roboter lebensecht wirken. So plaudert zumindest der Melle-Roboter in seinem Sessel. Wie man im Video sehen kann, wurde für diesen Prototyp Melles Gesicht mit Silikon abgeformt, anschließend seine Haare brutal den Kopf gestickt und die gesamte Hülle dann auf ein elektronisches High-Tech-Gerüst gespannt, die noch in textile Schriftstellercamouflage getarnt wurde, dunkle Kleidung, der einzige Akzent der aus dem V-Ausschnitt sprießende weiße Hemdkragen. Obwohl der Bühnenmelle so lebensecht wie möglich geschaffen wurde, wirkt dieser Roboter nicht unheimlich. Selbst als er seinen Fuß einmal 360 Grad um seinen Knöchel dreht, um eine Art Pointe zu setzen, wirkt alles eher erschreckend zugänglich. Das liegt zum Teil an jener retrofuturistischen Spielart des Humors, welche durch die offensichtliche, gar rührende Verschiedenheit von feinmotorischem Mensch und plumper repräsentierender Maschine funktioniert und sich wahrscheinlich nur so lange halten kann, bis die Technik diese Grenze wirklich aufgelöst hat. Noch steht das Publikum auf einer zuverlässig abgesicherten Aussichtsplattform über dem Uncanny Valley und — natürlich! — macht Fotos. Es scheint verräterisch sicher, dass dieser Roboter nicht Melle ist. 

Die Zuschauer*innen kommen Melle gerade deshalb viel näher, weil er dank seines Stellvertreters fernbleiben kann. Weil keine falsche Authentizität seiner Seelenforschung beschworen werden muss, sondern diese falsche Echtheit in der unperfekten Nachahmung anerkannt, herausgearbeitet und überwunden wird. Aber diese Nähe durch Abwesenheit wäre unmöglich, wenn Melles für dieses Stück geschriebener Text nicht von einer vorauseilenden Empathie wäre. Die nimmt vorweg, was der*die unbekannte Empfänger*in der Worte empfinden könnte. Für eine*n Schriftsteller*in ist das im Grunde eine uralte und klassische Situation, denn auch Bücher ähneln Prothesen, durch die der Sprechradius sich ins Unbekannte erweitert. Das Unheimliche im Stück Uncanny Valley ist nicht die physische Ähnlichkeit des Roboters zum Menschen, sondern die Ähnlichkeit dieser scheinbar grundlegend neuen Form technischer Selbstvertretung zu traditionsreichen Techniken der Vermittlung zwischen Menschen, die sich nicht begegnen. Die Literatur ist eine solche Technik.

Ein anderes Unheimliches ist hierbei schon immer, dass der*die Autor*in nur ahnen kann, wie das ins Unbekannte gesandte, egal, ob über das Display eines E-Readers oder die Silikonlippen eines Roboters, von den späteren Empfänger*innen aufgefasst wird. Dass ein Publikum immer nur zu Vermutungen darüber kommen kann, wie es sich wirklich anfühlt, mit der eigenen Krankheitsgeschichte auf Lesereise zu gehen. Dass immer rätselhaft bleiben wird, wie es wirklich war, Uncanny Valley zu erleben.

[Link zum Trailer des Stücks]

Lena Schubert
Uncanny Valley
Haus der Berliner Festspiele
Link zum Trailer: https://vimeo.com/289579135
Konzept, Text, Regie: Stefan Kaegi
Text, Körper, Stimme: Thomas Melle
Ausstattung: Evi Bauer
Animatronik: Chriscreatures Filmeffects GmbH
Herstellung & Art Finish des Silikonkopfes / Koloration & Haare: Tommy Opatz
Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber
Video-Design: Mikko Gaestel
Musik: Nicolas Neecke
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