Meditation am Fenster: Bettina Pousttchi, “Panorama”
“Wer von außen in ein offenes Fenster hineinschaut, sieht niemals so viel wie jemand, der in ein geschlossenes Fenster schaut.”
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“Was liegt daran, welches die außerhalb meiner selbst angesiedelte Wirklichkeit ist, wenn sie mir dabei geholfen hat, zu leben, zu fühlen, dass ich bin und was ich bin?”
Charles Baudelaire, “Die Fenster” in Der Spleen von Paris, 1869. Übersetzung von Simon Werle, veröffentlicht im Rohwohlt Verlag, Hamburg, Juli 2019.
Steht Widerspruch oder Komplementarität zwischen einem Fenster, das Licht schenkt, und einer Fotografie, die Licht absorbiert?
Das Kesselhaus vom Kindl Zentrum für zeitgenössische Kunst ist sehr groß, 20 Meter hoch und von vier Backsteinwänden eingefasst. Die Südwand hat eine winzige Eingangstür und fünf schmale Fenster, die so hoch sind wie die Wand und insgesamt fast die ganze Breite einnehmen. Sie öffnen sich zu einem Platz, wo, als ich im Februar da war, magere Bäume und einsame Fahrräder zu sehen waren. Im Raum hat Bettina Pousttchi riesige Fotografien vor die drei restlichen Wände gehängt. Es sind Fotos des Platzes, die durch die Fenster des Kesselhauses aufgenommen wurden. Sie zeigen also genau das, was durch die Fenster zu sehen ist, inklusive Fensterrahmen selbst. Auf jeder Wand wechselt leicht die Perspektive, aber rein visuell erfährt man durch die Fotografien genauso viel über die Landschaft, wie durch die Fenster.
Nichts mehr erwarten als das, was schon hier ist. Sich der eigenen Umgebung bewusst machen und diese aufmerksam wahrnehmen. Den Blick zwischen echten Fenstern und Fotos der Fenster schaukeln lassen. Es fühlt sich fast wie Meditation an: sich auf die eigene und jetzige Erfahrung fokussieren von dem, was in dem Augenblick wahrzunehmen ist. Die schwarz-weißen Fotos bringen, zwingen sogar dazu, sich den kleinen Platz vor dem Kesselhaus richtig anzusehen. Und zu realisieren, dass man ihn bisher ignoriert oder übersehen hat, wie man generell die Straßen und Details einer Stadt meistens übersieht, wenn man vom Punkt A zu Punkt B geht. Diese Fotos, wie Brassaïs, offenbaren die Schönheit vernachlässigter Stadtlandschaften. Dabei fällt auch auf, wie schön und einzigartig die Fenster selbst sind. Und weiter noch, wie schön der durch die Fenster gesehene Hof ist. Die Kunst entsteht erst einmal daraus, Aufmerksamkeit auf mehrere Ebenen zu schaffen.
Daneben kontrastiert die sommerliche Landschaft der Fotos mit der echten Aussicht auf einen kalten, vom Wind zerrissenen Platz. Dabei bietet Bettina Pousttchis Installation, wie mehrere Ihrer Arbeiten, eine Überlegung über das Vergehen der Zeit an. Trotz der Stille und absoluten Unbewegtheit dieses Augenblicks vergeht die Zeit. Diese Frage lässt sich nicht nur im Kontrast zwischen sommerlichen und winterlichen Stimmungen verstehen – die Installation kann ja auch bei schönem Wetter im Mai besucht werden – sondern auch mit der Ästhetik der schwarz-weißen Bilder, die zeitlos wirken. Sie könnten sowohl vom letzten Sommer als auch aus dem letzten Jahrhundert sein.
Was bedeutet das, wenn eine Künstlerin die Fotografie eins zu eins als Fenster darstellt? Ein Fenster, so wie eine Fotografie, zeigt einen gerahmten, begrenzten Teil der Realität. In Bettina Pousttchis Fotografien haben die Fenster, durch ihre Rahmen und ihr einzigartiges hohes, schmales Format, eine ebenso große Präsenz und Wichtigkeit wie die Landschaft im Hintergrund. Die Fenster als physische Trennung stehen eben im Vordergrund. Von daher macht diese Installation nicht nur auf die unmittelbare Umgebung aufmerksam, sondern auch auf die Grenzen der eigenen Wahrnehmung. Es gibt nur eine limitierte Anzahl an Perspektiven auf das Außen. Diese Aussage spricht für eine Interpretation des Raums als Metapher des inneren Erlebens. Die fotografierten Fenster sind in dem Sinne eine Spiegelung der eigenen mentalen Grenzen: die Realität kann ich nur als ich erleben, und alles was ich Realität nenne, ist nichts als eine rein spekulative Interpretation. Dass sich davon keine*r befreien kann, unterstellt Bettina Pousttchi, indem sie einen Raum schafft, wo überall nur die gleiche Aussicht zu sehen ist. Wie ein Spiegellabyrinth der Seele: der Körper wird nicht gespiegelt, sondern der Blick auf die Welt. Die Fenster und Fotografien, seien sie weiter als Metapher einer eingeschränkten Wahrnehmung verstanden, haben zwei Haupteigenschaften: Sie laden dazu ein, die Realität über jene Grenzen hinaus zu fantasieren – sie stimulieren die Vorstellungskraft -, und sie schützen vor der vielleicht unerträglichen Realität, indem sie eine Trennung zwischen Innen und Außen bilden. So Baudelaire nach einer Träumerei über ein geschlossenes Fenster: “Was liegt daran, welches die außerhalb meiner selbst angesiedelte Wirklichkeit ist, wenn sie mir dabei geholfen hat, zu leben, zu fühlen, dass ich bin und was ich bin?”
Die Installation “Panorama” verkörpert einen komplexen Paradox: Jede*r ist in seiner*ihrer eigenen Interpretation der Realität eingesperrt und jeder Versuch, neue Perspektiven auszuprobieren, führt nur zu einer weiteren Projektion des Selbsts. Andererseits ist das Bewusstsein der eigenen Einschränkungen der Grund, sich mit Kunst zu konfrontieren – als Künstler*in sowie als Betrachter*in: über die Grenzen hinaus imaginieren, denken, hinterfragen, und versuchen, zu kommunizieren.
Jetzt, wo die Straßen ihre Augenlider trotz des lauten und prachtvollen Frühlingsbeginns zufallen lassen, ist es Zeit, die Poesie der Welt durch die Fenster zu genießen!
KINDL Zentrum für zeitgenössische Kunst
Am Sudhaus 3
12053 Berlin