Über das Format der “Relaxed Performances”
Anfang Januar war ich bei den Tanztagen Berlin 2020 in den Sophiensælen, um mir eine zeitgenössische Tanzperformance anzusehen. Bevor wir Zuschauer*innen die Treppe zum Hochzeitssaal hinaufsteigen durften, enthüllte ein*e Mitarbeiter*in, dass die folgende Performance eine Relaxed Performance sein würde, die es den Anwesenden ermöglichen sollte, die Aufführung in einer entspannten Atmosphäre und in einem beleuchteten Raum zu erleben, mit der Erlaubnis zu reden und sich zu bewegen. Relaxed Performance — dieser Begriff war mir tatsächlich neu. Die folgende Tanzperformance mit dem Titel La Postal de Nuestra Existencia von Areli Moran sollte also anders als alle Aufführungen sein, die ich bisher gesehen hatte.¹
Während der Performance von Areli Moran — die, nebenbei bemerkt, choreographisch großartig ausgeführt wurde und inhaltlich überzeugend war; es ging um die Liebe zur eigenen (Ganz-)Körperbehaarung, das Stehen zum eigenen Haarkleid entgegen gesellschaftlicher Schönheitsnormen und glatter Erotikvorstellungen, als tänzerische Selbsterkundung und -Befreiung — war der Bühnenraum tatsächlich hell, und das Wissen um die Erlaubnis zum Bewegen und Geräuschemachen sorgte für eine angenehme Stimmung. Jedoch quietschten sowohl die Kunstlederbank, auf der ich Platz nahm, als auch der polierte Linoleumbelag, weshalb ich mich eher in einer Art Starre befand. Gleichermaßen war ich im Bann der Performance gefangen und schaffte es kaum, mich mit meiner Sitznachbarin auszutauschen.
Das Format der Relaxed Performances hatte es mir jedoch angetan, weshalb ich auf dem Heimweg die mobile Website der Sophiensæle durchsuchte und folgende Erklärung unter dem Reiter Barrierefreiheit fand:
„Ausgewählte Vorstellungen finden als Relaxed Performance statt. Relaxed Performances richten sich an alle, die sich in einer aufgelockerten und sensorisch entspannten Atmosphäre wohler fühlen. Das Licht im Zuschauerraum ist an, um völlige Dunkelheit zu vermeiden. Zusätzlich wird Gehörschutz bereitgestellt, falls es zu laut werden sollte. Wer möchte, kann während der Show kommen und gehen. Stille ist nicht obligatorisch. Wer eine Pause braucht, kann sich im Foyer zurückziehen.“
Zuhause angekommen führte ich meine Recherchen fort und ließ mich von einer Suchmaschine auf verschiedene englischsprachige Seiten weiterleiten. Auf den ersten Blick sah ich, dass Relaxed Performances in Großbritannien und den USA schon seit mehreren Jahren zum Programm großer und kleinerer Theaterhäuser gehören.
Das Respektieren von Neurodiversität in (“hoch-”)kulturellen Institutionen und folglich deren aktive Inklusion in Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramme ist jedoch recht neu. Im Rahmen der Neurodiversitätsbewegung Ende der 1990er-Jahre wurde vor allem in den Erziehungswissenschaften Sensibilität dafür geschaffen, dass gemeinhin als neurologische „Störungen“ bezeichnete, von der „Norm“ abweichende „Auffälligkeiten“ wie Dyskalkulie, ADHS und Autismus nicht mehr als „Störungen“ angesehen werden sollten, sondern als Teil der menschlichen Diversität.² Auch wenn die globalisierten Gesellschaften nur ungern von ihren Pathologisierungen Abstand nehmen möchten, so ist eine antidiskriminatorische Bewegung hin zu mehr Respekt gegenüber Diversität und Intersektionalität überfällig. Die Wahl des Adjektivs “relaxed” in Relaxed Performances bezieht sich folglich nicht so sehr auf den Inhalt einer Performance, sondern viel mehr auf die räumliche und atmosphärische Situation, in welcher eine Aufführung stattfindet.
Die Tatsache jedoch, dass ich mich während der Performance kaum traute, einen Positionswechsel vorzunehmen oder zu gebannt war, um ein Gespräch über das Erlebte zu beginnen, könnte eventuell auch durch einen sozialisationsbedingten Erfahrungsmangel mit einhergehendem noch immer geringen Selbstbewusstsein im Kontext kultureller Aufführungen erklärt werden.
Selbst ich, die zwar durch kultur- und kunstwissenschaftliche Studien und privates Interesse schon häufig Zuschauerin in Aufführungen, sowohl in großen Institutionen als auch in kleineren Theaterhäusern und bei Festivals war und dadurch zahlreiche Performances erleben durfte, bin nicht mit derartigen Veranstaltungen aufgewachsen. Erst der Weg für mein Erststudium in eine deutsche Großstadt am Rhein öffnete meinen Blick für die Vielfalt an Kultur, die mir in meiner dörflichen Herkunftsstadt größtenteils verwehrt blieb — was mitunter auch durch mein Herkunftsmilieu begründet werden könnte. Mit der Zeit habe ich mir einen gewissen Habitus antrainiert, weiß in etwa, wie man sich in einem Ballett in der Berliner Staatsoper oder bei einer Performance in den Sophiensælen verhalten „sollte“, verstehe Codes und “Regeln” und kann mir finanziell ab und an einen Besuch im Theater “leisten”. Nichtsdestotrotz fühle ich mich nach wie vor häufig wie ein „Eindringling“, ertappt als „Klassenflüchtling“³, fehl am Platz, teilweise kritisch beäugt.
Der Sprechakt, welcher der Tanzperformance von Areli Moran in den Sophiensælen vorausging und sie als Relaxed Performance ankündigte, gab mir allerdings ein grundsätzlich willkommengeheißenes Gefühl von „Du bist Okay hier“ — auch wenn ich während der Aufführung selbst keinen Gebrauch der Bewegungsfreiheit machte. Die Entspannung in meinem Kopf und an meinen eigenen haarigen Beinen sorgte in jedem Fall für eine kostbare, fast schon heterotopische Erfahrung. Warum kann nicht jede Performance so relaxed sein?
Relaxed Performances stellen eine notwendige Möglichkeit dar, die Diversität und kognitive Vielfalt unter den Zuschauer*innen performativer Künste zu vergrößern. Lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir die Förderung, Konzipierung und Durchführung von diversitätssensiblen Aufführungen künftig, auch in Anbetracht der aktuellen Quarantäne-Situation, realisieren können. Dabei ist die Berücksichtigung von sozialen, finanziellen und sprachlichen Gesichtspunkten in Bezugnahme auf machtkritische, antidiskriminatorische Fragen von Zugänglichkeiten und Intersektionalität unabdingbar.
¹ Obwohl eine Aufführung nie der anderen gleicht und das Zeit-Raum-Gefüge stets einmalig ist. Erika Fischer-Lichte beschreibt dies treffend in Ästhetik des Performativen (2004).
² Vgl. hierzu u.a. National Symposium on Neurodiversity at Syracuse University, 2011.
³ Vgl. u.a. Didier Eribon Rückkehr nach Reims (2009/2016) und Gesellschaft als Urteil (2013/2017).