“Kunstweh”
« Je ne veux feuilleter les exemplaires Grecs,
Je ne veux retracer les beaux traits d’un Horace,
Et moins veux-je imiter d’un Pétrarque la grâce,
Ou la voix d’un Ronsard, pour chanter mes Regrets.
Ceux qui sont de Phoebus vrais poètes sacrés
Animeront leurs vers d’une plus grande audace :
Moi, qui suis agité d’une fureur plus basse,
Je n’entre si avant en si profonds secrets.
Je me contenterai de simplement écrire
Ce que la passion seulement me fait dire,
Sans rechercher ailleurs plus graves arguments. »
Les Regrets, 4, Joachim Du Bellay.
13.März, Paris. Das war das letzte Mal, dass ich in ein Museum ging. Alle Galerien und Museen sollten am Abend generell schließen. Bereits mehr als einen Monat seit der Schließung.
Ich habe den Eindruck, eine Abhängige zu sein. Eine Freundin scherzte darüber: Du siehst aus, als wärst du auf Entzug. Ich durchlebe eine persönliche Krise – neben der Corona-Krise. Ich habe Kunstweh. Es kommt mir so vor, als wäre ich in einer anderen Welt.
Wie kann ich ohne Kunst leben? Kunst wird in der aktuellen Phase nicht als „notwendig“ für das gesellschaftliche Leben angesehen. Keine Kritik. Die Gründe für die Schließung von Kulturstätten sind gerechtfertigt und wohlbegründet. Menschenleben werden gerettet.
Seitdem verschiedene Staaten entschieden haben, Kunstorte zu schließen, sind viele Initiativen entstanden, um Kunst und Kultur lebendig zu halten. Das Internet war nie zuvor so wichtig für die Kunstszene und Kunstliebhaber*innen. In sozialen Netzwerken der digitalen Sphären oder in Zeitungen erfahre ich jeden Tag von neuen Initiativen, die virtuell Kunst teilen: Projekte von Künstler*innen, Galerien, Museen, Kunstkollektiven. Es gibt Livekonzerte oder Performances zu sehen, virtuelle Museumsbesichtigungen zu erfahren, Sammlungen und Werke zu entdecken, sogar die Entstehung von Werken ist als Work in Progress live zu erfahren.
Zu Beginn der Einschränkungen verbrachte ich viel Zeit mit diesen Angeboten. Etwas später bemerkte ich, dass meine Lust an ihnen verloren ging. Ich hatte immer dieses kleine Gefühl, dass es mir nichts brachte. Alles sah so virtuell aus, fast fiktiv. Ich brauchte echte Kunst.
Warum vermisse ich die Kunst so sehr? Mir fehlt die Präsenz von Werken. Die emotionale Erfahrung am Telefon- oder Computerbildschirm ist damit nicht vergleichbar, auch wenn die Details eines Gemäldes – dank der Abbildungsqualität – manchmal sichtbarer werden. Vielleicht ist mein Computerbildschirm nicht groß genug, damit ich die Gemälde wirklich genießen kann. Ich glaube nicht. Der direkte Kontakt mit dem Werk ist schlicht für mich eine andere Erfahrung. Seine physische Präsenz spricht meine Sensibilität an, weckt meine Emotionen und unterscheidet jede Ausstellung damit grundlegend von jeder virtuellen Darstellung. Walter Benjamin hat diese Empfindung in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit perfekt geäußert. Seinen technologischen Horizont bildeten Kino und Fotografie, Benjamins Denken trifft aber auch auf das digitale Zeitalter zu. In seinem Text erklärt er, dass die Aura der Kunstwerke mit den Reproduktionstechnologien verschwinden würde. Mit Aura bezeichnet er die Einzigartigkeit der Kunstwerke, ihre “Authentizität” und besonders ihre Präsenz im Hier und Jetzt. Ich vermisse genau diese Aura der Kunstwerke.
Aber es sind nicht nur die Kunstwerke. Es ist auch die Stimmung des Ortes, wo sie ausgestellt werden. Ich bin sehr konservativ in meiner Beziehung zu Kunst. Ich mag diese gedämpfte Stille von Museen. Manchmal, fast heimlich, sage ich niemandem, wohin ich gehe und schleiche mich in eine Galerie. Ich vergesse die Zeit, manchmal sogar der Ort, an dem ich mich befinde. Ich bleibe. Ich bewundere die Werke. Ich genieße diesen Moment. Ich verliere die Zeit aus den Augen. Nach mehreren Stunden genieße ich noch diesen stillstehenden Augenblick. Das Museum ist meine Zuflucht. Dort fühle ich mich immer heim.
Manchmal träume ich, dass ich ein Museum betrete.
Keine Geräusche. Nur das Flüstern des Fußbodens.
Seltsame Leute tanzen um mich herum: Eine Fauna, Aphrodite, Herakles.
Mir dreht sich der Kopf. Bin ich berauscht?
Ihr Tanz ist eingefroren. Sie bewegen sich nicht. Ich tanze um sie herum.
Kein Bacchanal.
Zerstreute Töne dringen zu mir. Der Geruch von Kaffee.
Ein weicher, leicht bitterer Klang auf der Zunge.
Der Traum ist weg.
Wie schön es wäre, wie Sami Frey, Claude Brasseur und Anna Karina in Jean-Luc Godard‘s Film Bande à Part nach der Krise durch das Louvre zu rennen.