Escape Act, Alexandra Bachzetsis
Fast alle Plätze im großen Saal HAU2 sind belegt und das alterstechnisch durchmischte Publikum sitzt gut gelaunt auf ihren vorab gebuchten Sitzen. Ich sitze recht mittig in der sechsten Reihe mit optimalem Blick auf die Bühne. Während immer mehr Menschen ihre Plätze einnehmen, fällt mir auf, dass das gelblich-weiße Scheinwerferlicht den Gesichtern der Menschen schmeichelt. Niemand wirkt müde oder blass, alle sehen gesund, frisch und regelrecht jung aus. Gute Lichttechnik, geht mir durch den Kopf. Das Licht erlischt. Auch das Rauschen der Menschen verstummt. Wenige Sekunden später geht es los.
Eine Frau betritt in pinken High Heels die hellgraue Bühne und beginnt sich von einer in die nächste Pose zu bewegen. Sie verbiegt sich, räkelt sich, und verbleibt dabei auf dem Boden. Ihre Posen wirken teilweise grotesk, teilweise wecken sie Erinnerungen an die gestellten Modelposen auf Werbefotos. Ihr Gesicht ist verdeckt durch eine schwarze Stoffmaske und bildet dadurch einen starken Kontrast zu ihrem ansonsten knalligen Outfit. Neben den pinken High Heels mit neonfarbenen Schnürsenkeln trägt sie eine hellblaue Jeans und ein lilanes T-Shirt. Zudem schmiegt sich ein breiter schwarzer Gürtel elastisch um ihre Taille. Nach einer Weile frage ich mich, ob sie noch lange so weitermachen wird und einzig ihr Gepose der Escape Act ist. Doch kurz darauf verlässt sie die Bühne.
Die nächste Person erscheint. Sie trägt Jeans und Protektoren, setzt sich auf einen Klappstuhl, schmeißt sich auf den Boden, bewegt sich plump, grobmotorisch und brutal. Sie bleibt auf dem Boden liegen und beginnt sich zu entkleiden und entblößt sodann ihren sportlich-androgynen Frauenkörper. Im Hintergrund bewegt sich ein Mann auf eine eingerollte Matratze zu und rollt sie aus. Dann nimmt er Platz und verharrt in einer hockenden Pose, während die Matratze langsam und automatisch aufgeblasen wird. In ihrer Farbgestaltung wiederholt sich das helle Grau des Bodens und das Neonfarbene der Schnürsenkel.
Die Performer*innen verlassen die Bühne durch den hellgrauen Vorhang und eine weiß bekleidete Person erscheint. Sie trägt einen Kapuzenpullover und statt eines Gesichts sind lange, wellige Haare zu sehen, die aus der Kapuzenöffnung herauszuwachsen scheinen. Sie rollt fragil und lasziv auf einem hellgrauen Gymnastikball hin und her, rutscht zum Boden und posiert. Auch sie beginnt sich zu entkleiden. Zunächst zieht sie sich die weiße Hose von den Beinen, wobei die rote Jeans zu Tage tritt, die sich darunter befindet. Danach folgt der Pullover und ja, die Perücke. Zu sehen ist nun ein trainierter Mann mit rasiertem Kopf und zartem Schnäuzer, der sich stereotyp-feminin bewegt.
Nach und nach verlassen und betreten Darsteller*innen verschiedenen Alters und Geschlechts die Bühne, posen, tanzen, mal synchron in Choreographien, mal einzeln. Heteronormative und binäre Genderrollen werden hinterfragt, dekonstruiert, neu aufgestellt. Gender, Generationen und Hautfarben verschwimmen und es sind nurmehr Menschen zu sehen, die bestimmte intersektionale Rollenklischees verkörpern. Pappkartons, die als Kisten oder Schubladen zu verstehen sind, werden unter massiver Kraftanwendung zerstört. Es folgen Sequenzen mit Musik und Gesang, in denen Popkultur, Popsongs und Pornos zitiert werden. Die Handlungen überlagern sich. Ein unübersichtliches, eskalierendes Party-Spektakel wie aus Modemagazinen oder Musikvideos wird rezipiert und inszeniert. Der Tanz der Stunde ist Vogueing. In den Rap-Texten fallen Sätze wie „My hairy Pussy“, Worte wie „Dick“ und „Cunt“.
Foto: ©Blommers/Schumm
Die erste Tänzerin erscheint bald als Protagonistin des Popkultur-Spektakels. Sie ist die jüngste, Typ „Lolita“, beobachtet die verschwimmenden Rolleninszenierungen der Älteren und ihrer selbst, singt über Pornotitel, in welchen 18-jährige, junge Mädchen vorkommen, spielt mit ihrer Zunge und reitet erotisch-hüpfend auf den Luftmatratzen. Der älteste männliche Tänzer erzählt über seine Vergangenheit als Stripper*in. Er erklärt, wie sich die Schönheitsideale und -ansprüche an Sexarbeiter*innen im Laufe der Zeit geändert haben, und dass Gesäßunterspritzungen Alltag gewesen seien. Von schlank zu üppig und zurück. Seine Performance überzeugt mich jedoch nicht. In einer Szene wirkt es, als würde die junge „Lolita“ auf ihn zugehen, um ihm leise zu sagen, dass er seine Position auf der Bühne verändern müsse. Das wirkt weder einstudiert, noch überzeugend improvisiert. Möglicherweise ist er als Ersatz für einen ausgefallenen Kollegen eingesprungen. Ebenso möglich, dass diese Situation absichtlich absurd erscheinen soll, um den Generationen-Unterschied hervorzuheben: Der ältere Mann tanzt aus der Reihe. Sein Tanzstil unterscheidet sich stark von denen der anderen Tänzer*innen, die mit ihm gemeinsam auf der Bühne zu elektronischer Popmusik feiern.
Nach einem letzten Song, der melodisch stark an Rihannas „Diamonds“ erinnert, und während dessen die Bühne in ein blutrotes Licht getaucht wird, ist das Spektakel vorbei. Das Ende wirkt abrupt und das Gefühl des Unvollständigen schleicht sich ein. Unter rauschendem Beifall erscheinen die Performer*innen erneut auf der Bühne und lassen sich feiern. Ihre anstrengende körperliche Arbeit wird durch den zufriedenen Applaus des Publikums belohnt.
Foto: ©Blommers/Schumm
Nachdem ich von der Toilette zurückgekehrt bin, nehme ich neben meiner Begleitung auf der Bank außerhalb der HAU-Bar Platz. Während meiner Abstinenz hat sich eine Person zu meiner Begleitung an den Tisch gesetzt und bei Wein und Zigarette eine Unterhaltung über das Gesehene und Erlebte begonnen. Die Person ist laut eigener Aussage Tänzer und Choreograph – also „vom Fach“. Ihm habe die Inszenierung gefallen, doch sei sie ihm nicht radikal genug gewesen. Er hätte sich viel mehr Brutalität und Zerstörung gewünscht. Wie in der Szene, in welcher die Performer*innen die Pappkartons zerstört hatten. Für ihn sei die Inszenierung zu stark an der Oberfläche geblieben und nicht tief genug in die Thematik der Gendernormen eingedrungen. Ich erwiderte, dass die oberflächliche Herangehensweise an die Thematik möglicherweise ein stilistisches Mittel gewesen sein könnte, um ebendiese oberflächliche Popkultur zu zitieren und dadurch zu konterkarieren.
So wiederholt sich das Gefühl der Unvollständigkeit, gepaart mit offenen Fragen und der Erkenntnis, dass eine Performance, die Gendernormen und popkulturelle Stereotype thematisiert, nie zufriedenstellend sein kann. Jede*r bringt eigene Erwartungen und Erlebnisse mit, die das Gesehene in ein anderes Licht stellen. Und das ist nicht immer schmeichelhaft, aber in diesem Fall sah es zumindest schön aus.
Escape Act
Konzept & Choreographie: Alexandra Bachzetsis
23. März 2019, 20 Uhr
HAU2, Hebbel am Ufer
Hallesches Ufer 32
10963 Berlin