“As We Used To Float” Julian Charrière
16 Uhr in Berlin. Es ist Ende Oktober und der Winter ist zu spüren, denn die Sonne geht fast schon unter. Ich öffne eine Tür und auch dort begegne ich der Dämmerung. Ich sehe rote Palmen in den letzten Sonnenstrahlen, einen Strand mit feuchtem und warmem Sand, das Meerwasser, wo goldene Spiegelungen leuchten. Überall glänzen kleine Splitter so wie Sternenstaub oder Pailletten, die dieser Landschaft einen fabelhaften Anblick verleihen. Oder einen kitschigen. Der Anblick sieht so sehr paradiesisch aus, dass es fast verdächtig scheint. Meine Augen vernehmen ein unbeschreibliches Quietschen. Dieses Bild ist wie eine Postkarte, deren Druck viel zu groß, deren Inhalt viel zu flach ist. Man will sich auf diesem Strand ungerne hinlegen.
In dem Rundgang, den ich hiermit noch einmal durchlaufe, ist jedes Element doppelseitig. Jede Landschaft und jeder Bestandteil der Landschaft enthält ein unbeschreibliches und unscharfes Rätsel. Das Rätsel hat mit einer Art Zwiespältigkeit zu tun. Oder vielmehr mit einer Ambivalenz. Jedes Objekt hat eine doppelte Identität und verrät auch nichts anderes als diese Duplizität, ohne sie weiter zu erläutern. Und die Überschneidung der Bedeutungen macht die Plattitüde des Ortes prägnanter. Was genau wird verdoppelt? Die Identität der Elemente. Eine Ambivalenz zwischen was? Zwischen Wahrnehmung und Realität. Befinden wir uns also in diesem ständig wieder interpretierten künstlerischen topos? Nicht nur, denn der litorale Topos unseres Rundgangs ist auch doppelseitig. Scheinbar sind wir auf einer sogenannten “paradiesischen” Insel: ein globalisiertes Bild, das schon längst als Symbol für Urlaub, Nostalgie, oder gar einer Urlandschaft gilt. Die ideale, unberührte und wunderschöne Natur. Es ist das Bild von einer Insel, die sich auf keine Geografie bezieht. Es ist Fidschi, Polynesien, Hawaii, Neuseeland, die Karibik… Jedoch befinden wir uns nicht auf irgendeiner Insel, sondern wir erfahren bereits im Ausstellungstext, dass wir die pazifische Bikini-Atoll Insel betreten werden. Die zeitgenössische Geschichte dieser Insel wird uns erklärt: Von 1946 bis 1958 haben die Vereinigten Staaten dort nukleare Tests durchgeführt. Diese Information, die wir von vornherein zur Kenntnis nehmen, verschärft unseren Blick während der Ausstellung. Wir sind nicht frei von Kenntnissen, genauso wenig wie diese scheinbar zeitlose Insel nicht frei von politischer Geschichte ist. Hier liegt die Duplizität. Die allgemeine Ambivalenz. Und diese zwei Ebene implizieren viele Fragestellungen, die in die zwei Richtungen gehen und sich letztendlich wieder treffen.
Was das allererste Foto angeht; hier wurde Sand auf dem fotografischen Film gestreut. Die Radioaktivität des Sandes hat die kleinen weißen Flecken verursacht, die wie kitschige Sternchen aussehen. Ebenso aufgrund der Radioaktivität musste der Künstler die Kokosnüsse mit Blei überziehen, um sie transportieren und ausstellen zu können. So beantworten die historischen Kenntnisse einige Fragen; die Geschichte ist Teil des künstlerischen Konzepts, was zu dieser Ästhetik der beunruhigenden aber auch friedlichen Seltsamkeit führt. Es wird mit den Darstellungen des Zeitlosen und des Historischen gespielt. Wir bewegen uns in einem Raum, der politisch und symbolisch ist. Nichtsdestotrotz erzählt auch diese Symbolik des Originellen eine politische und soziale Geschichte, die eine besondere Art der Darstellung bestimmt hat.
Julian Charrière. As We Used to Float. GASAG Kunstpreis 2018. Installation view, Berlinische Galerie. Foto: Jens Ziehe © Julian Charrière © VG Bild-Kunst, Bonn 2018
« Et par manque de brise le temps s’immobilise, aux Marquises. Du soir montent des feux et des points de silence qui vont s’élargissant et la Lune s’avance. […] Et la nuit est soumise et l’Alizée se brise, aux Marquises. » Jacques Brel, « Les Marquises ».
Titelbild: Julian Charrière. As We Used to Float. GASAG Kunstpreis 2018. Installation view, Berlinische Galerie. Foto: Jens Ziehe © Julian Charrière © VG Bild-Kunst, Bonn 2018
27.09.2018 – 08.04.2019
Berlinische Galerie, Museum für moderne Kunst
Alte Jakobstraße 124–128
10969 Berlin