Balanchine / Forsythe / Siegal
1 THEME AND VARIATIONS / George Balanchine
Die Reise durch die verschiedenen Epochen und Variationen des Balletts an diesem Abend im Staatsballett Berlin beginnt mit einer ans klassische Ballett angelehnten Choreographie, Theme and Variations von George Balanchine. Das reduzierte Bühnenbild ist in einem hellen Grauton gehalten. So sind es vorerst einzig die prunkvollen Kronleuchter, die eine zeitliche und stilistische Kontextualisierung ermöglichen.
Die Ausführungen der Bewegungen sind perfekt, jeder Schritt und jeder Sprung sitzt. Das Zusammenspiel der vielen Tänzer*innen auf der Bühne der Staatsoper unter den Linden funktioniert in vollster Harmonie. Männliche und weibliche Tänzer*innen erfüllen kostümtechnisch ihre ‚traditionellen’ Rollen, wie man es von einem klassischen Ballett erwarten könnte, doch sind die Kostüme nicht überladen, sondern dem reduzierten Bühnenbild entsprechend schlicht gehalten, ohne viele Rüschen und mit geringem Glitzeranteil.
»Theme and Variations« von George Balanchine, Foto: © Yan Revazov
Zwar handelt es sich offensichtlich eher um ein klassisches Ballett, getanzt zu der Musik Tschaikowskys — doch etwas ist anders. Zwischenzeitlich habe ich den Eindruck, dass die Tänzer*innen ‚unschöne‘ Bewegungen machen, was ich sehr spannend finde, denn dies bricht mit der Romantik und Perfektion des klassischen Balletts, mit seinen ‚hübschen‘ Posituren, epischen Arabesques und Grands Battements. Vielleicht sind diese kurzzeitigen Brüche schon eine Andeutung auf den zweiten Akt. Das erste, kurzweilige Tanzstück des langen Abends neigt sich dem Ende und die erste Pause wird eingeläutet.
2 THE SECOND DETAIL / William Forsythe
Eine Partitur als Boden? Die Gestaltung des noch immer sehr reduzierten Bühnenbildes ähnelt farblich dem des ersten Akts. Nun begrenzen jedoch riesige Stellwände den Bühnenraum, und betonen so die geometrischen Formen. Auch die geraden Linien, die sich in den Streifen auf dem Teppich-ähnelnden Boden und in den schlichten, an der Rückwand aufgereihten Sitzhockern wiederfinden, sind orthogonal. Im Vordergrund steht ein Schild mit der Aufschrift „THE“. Ebenso geradlinig in Arial.
»The Second Detail« von William Forsythe, Foto © Yan Revazov
Ohne Schnörkel und Tutus bewegen sich die in hautengen, hellgrauen Anzügen gekleideten Tänzer*innen alleine, miteinander, und parallel zueinander, um dann aus dem Korsett der gleichmäßigen Choreographie auszubrechen und den starren Linien zu entfliehen. Manche machen Kehrt und gehen in lässigen Bewegungen zurück zu den Hockern, setzen sich und warten auf ihren nächsten Einsatz. Die Tanzenden verrenken sich und zeigen eine große Vielfalt an Bewegungen des zeitgenössischen Balletts, wobei sie zumeist sämtliche Gliedmaßen von sich strecken oder ihre Hände und Beine krähen- oder storchenartig krümmen. Alles geschieht sehr schnell, mal fließend, mal stockend.
Die eigens für William Forsythes Stück The Second Detail komponierte Musik von Thom Willems betont die staccato-artigen Bewegungen der Tanzenden, gibt die Geschwindigkeit und den großen Spielraum an Wandelbarkeit der Bewegungen vor. Obgleich diese außerordentlich anstrengend sein mögen, gelingt den Tänzer*innen jeder Schritt und jeder Übergang mit solch einer Leichtigkeit, die fast übermenschlich wirkt.
Plötzlich stößt eine Art ‚Bienenkönigin‘ zu den Tanzenden, die mit einer schlichten, weißen Tunika bekleidet sowohl optisch, als auch durch noch expressivere Bewegungen auffällt. Nach einem kurzen, auspowernden Tanz geht sie zu Boden und beendet so auch die Bewegungen der anderen. Als letzte Handlung stößt einer der Tänzer das Schild um. „THE“ fällt und gefällt. Eine faszinierende Choreographie. Statt eines heruntergelassenen Vorhangs geht das Licht aus und hüllt den Bühnenraum in ein tiefes Schwarz. In einem Zustand beschwingt-faszinierter Trance verlasse ich den frisch restaurierten Saal zur zweiten Pause.
»The Second Detail« von William Forsythe, Foto © Yan Revazov
3 OVAL / Richard Siegal
Alien-artig, fluide, glitschig. Im letzten Stück des Abends beten beinahe geschlechtslose Körperwesen einen ovalen Leuchtring an, der sich langsam drehend und wendend im oberen Teil des Bühnenraums bewegt. Dabei wirkt dieser wie der unabdingbare Lebensmittelpunkt oder die erhaltende Lebensgrundlage der tanzenden Wesen. Handelt es sich bei Richard Siegals OVAL möglicherweise um ein posthumanes oder transhumanes Ballett?
Neben den assoziativen Bezügen zum Weltraum, zur Gravitation oder Transhumanität, erinnern mich glucksenden, dumpfen und technoiden Geräusche an eine außerirdische Unterwasserwelt. Viel Luft zum Atmen bleibt da nicht, doch die geschlechtslos wirkenden Körper scheinen dies nicht nötig zu haben. Ihre glänzenden, hautengen Bodies, die teilweise derart mimetisch an die eigenen Hautfarben angepasst sind, dass sie wie nackte Wesen erscheinen, haben eine fast schon feucht erscheinende Oberfläche, die, wahrscheinlich verstärkt durch den eigenen Schweiß, das Licht des Rings so sehr reflektieren, dass die Tänzer*innen aussehen wie glitschige Unterwasser-Reptilien oder Cyborgs. Wie Wesen, von einem anderen Planeten oder aus einer anderen, posthumanen Zeit.
Ballettfiguren abstrahierend und dekonstruierend bewegen sie sich in Einzel-, Paar- und Gruppenformationen über den Boden unter dem Leuchtring. Wie bei den vorherigen Stücken sind auch diesmal die Bewegungen treffsicher und synchron und folgen in präziser Abfolge der durchdachten Choreografie. Raffinierte Sprünge treffen auf robotische Anklänge, ausgestreckte Arme und Beine auf angewinkelte Knie und Hände.
Mit einem grell blinkenden Licht, vor dem bereits auf der Website des Staatsballett gewarnt wurde, bewegt sich der ovale Ring dem Boden entgegen und saugt auch den verbliebenen Tanzenden in sich ein. Wie das letzte Aufleuchten eines Planeten oder eines Sterns, der in das Gravitationsfeld eines schwarzen Lochs geraten ist, verschwinden auch die transhumanen Balletttänzer*innen im Schlund des ovalen Nirgendwo.
»Oval« von Richard Siegal, Foto © Yan Revazov
Draußen empfängt mich eine der ersten lauwarmen Berliner Frühsommernächte. Die Skulpturen auf der alten Humboldt-Universität sind aus der Ferne als Schattensilhouetten zu erkennen, die durch das tiefe Blau der bereits untergegangenen Sonne dramatisch und mahnend zugleich wirken. Starr und erhaben umranden sie mein Blickfeld, welches an diesem Abend durch drei sehr verschiedene und doch aufeinander aufbauende Choreografien geweitet wurde.
Balanchine / Forsythe / Siegal
18. Mai 2019
Staatsballett Berlin
Staatsoper Unter den Linden
Unter den Linden 7
10117 Berlin